Dienstag, 25. August 2009

Bei strahlendem Wetter am Kernkraftwerk

Mehr als zehn Jahre sind vergangen. Zeit für einen Rückblick auf die Anti-Castor-Demonstration am 19. März 1998 in Neckarwestheim

Völlig unerwartet klingelt am Mittwoch, den 18. März 1998, zu später Stunde das Telefon. Die Nachricht, daß der Castor-Transport um 24 Stunden vorgezogen wird, erreicht mich. Die Gruppe, mit der ich zur Demonstration nach Neckarwestheim fahren wollte, trifft sich also schon heute um halb zwölf, in genau einer Stunde. Leider muß ich mich damit abfinden, erst morgen, mit der ersten S-Bahn, Richtung Kernkraftwerk zu reisen, da mir meine Eltern einen Strich durch die Rechnung machen. Schließlich sollte man ausgeschlafen, mit voller Kraft demonstrieren können. Ich suche nun alle wichtigen Dinge wie Regencape, Wollpulli, Ersatzkleidung und Personalausweis zusammen und stelle den Wecker auf 4:40 Uhr. Bevor ich mich schlafen lege, rufe ich noch kurz einen Klassenkameraden über sein Handy an, der sich bereits am Platz der Blockade befindet. Später stellt sich heraus, daß das mobile Telefon eines der wichtigsten Gebrauchsgegenstände für solche Veranstaltungen ist. Noch ist alles ruhig in der Umgebung des Kernkraftwerks, die ankommenden Atomkraftgegner werden von der Polizei nur an markanten Stellen wie der Neckarbrücke bei Kirchheim/Neckar kontrolliert. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.

Pünktlich um 4:40 Uhr holt mich mein Radiowecker aus dem Schlaf. Sofort bin ich wach und greife zum Telefon. Wieder informiert mich mein handybesitzender Mitschüler über die aktuelle Lage. Es muß wohl kalt gewesen sein für alle, die die Nacht ohne Schlafsack verbracht haben. Die Stimmung sei aber noch entspannt, auch wenn die Zahl der Polizisten ständig steige. Beruhigt, noch nichts verpaßt zu haben, packe ich meinen Rucksack mit dem Nötigsten und begebe mich zur S-Bahnstation. Es ist kurz nach Fünf, trotzdem sind mehr Menschen auf dem Bahnsteig, als ich vermutet hätte. Wer von ihnen wohl vom bevorstehenden Castortransport weiß? Am Hauptbahnhof steige ich in den Zug Richtung Heilbronn. Ganz in weißes Segelzeug gekleidet mache ich wohl einen seltsamen Eindruck auf die Zugführerin, die der einzige Mensch bleibt, der mir während der Fahrt begegnet. Am Kirchheimer Bahnhof treffe ich die ersten Gleichgesinnten, die jedoch erstmal den Weg zum nächsten Bäcker einschlagen. Im Morgengrauen laufe ich die etwa drei Kilometer lange Strecke, vorbei an Polizeiwagen und Bundesgrenzschutzbeamten. Niemand kontrolliert mich, keiner fragt mich, nichts. Auf dem Weg kommt mir eine Kolonne von 26 Polizeiwagen entgegen, auf denen, zu meiner Verwunderung, das Kennzeichen von Freiburg prangt. Was für ein Überaufgebot erwartet mich wohl am Tor 2? Wer von Kirchheim kommend zum Kraftwerk will, muß zuerst über die extra für die Atommülltransporte erbaute Neckarbrücke und dann am einem Weinberg hinaufgehen. Sobald man den Hügel überwunden hat, liegt einem ein Tal zu Füßen, in dem die Sonne nur sehr selten scheinen kann, da der Wasserdampf des Kühlturms alles in grauweißen Nebel hüllt. Ein Mann mit Fahrrad nimmt mich den letzten Kilometer auf seinem Gepäckträger mit. Es geht nur bergab, vorbei am Personaleingang und der tristen Betonmauer mit Stacheldraht, die das gesamte Areal umgibt.

Sonnenaufgang zwischen Flötenspiel und Übertragungswagen

Endlich bin ich am Ziel, am Horizont wird es heller, der Sonnenaufgang kündigt sich langsam an. Auf der Zufahrtsstraße sitzen und liegen etwa 80 Demonstranten, die sich keineswegs von der anwesenden Hundertschaft beeindrucken lassen, die in einer Reihe stehend den Zugang versperrt. Ein Übertragungswagen des Fernsehsenders RTL steht mitten im Geschehen; vor ihm sind Scheinwerfer aufgebaut, um jede Minute aufnehmen zu können. Aus meiner Schule sind zirka 30 Leute seit 1 Uhr hier, die Müdigkeit steht ihnen im Gesicht geschrieben. Man hört Gitarren- und Flötenspiel, bis jetzt ist alles friedlich. Kein einziger gewaltbereiter Autonomer ist zu sehen, die meisten Anwesenden hoffen, daß das auch so bleibt. Sobald die Sonne zum Vorschein kommt, wird es spürbar wärmer. Die Polizisten, die die Grenze zwischen Gut und Böse bilden, werden regelmäßig abgelöst. Nach einigen Stunden sind die Gesichter der einzelnen Gesetzeshüter vertraut. Es kommt sogar zu ausführlichen Wortwechseln zwischen Demonstranten und der Polizei. Es gibt da Männer in Grün aus Karlsruhe, Mannheim, Freiburg und vom Bodensee. Man hat den Eindruck, als ob das gesamte Polizeiaufgebot Baden-Württembergs in Neckarwestheim eingetroffen ist. Die Frage nach den dadurch anfallenden Kosten traut man sich gar nicht erst zu stellen. Beantworten kann sie so oder so niemand, da keiner wirklich Bescheid weiß. Jeder Polizist, mit dem man spricht, sagt, daß er halt hier sei, weil er´s müßte. Es scheint fast so, daß manche gar nicht wüßten, weshalb sie eigentlich hier sind. Auch auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Transportbeginns werden nur Vermutungen ausgesprochen. Uns soll´s nicht stören. Der momentan bekannte Termin ist 16 Uhr.

Bei Musik Daumen drücken für die Tunnelgräber

Gegen halb elf Uhr trifft ein mit Rapsöl-Diesel betriebener Kleinbus ein, der einen sehr interessanten Anhänger zieht: eine solarbetriebene Musikanlage. Die Musik läßt das während des Wartens leicht gesunkene Stimmungsbarometer schlagartig steigen. Um halb zwölf erreicht uns die Nachricht, daß sich zwei Atomkraftgegner unter der B27 zwischen Kirchheim und Walheim in einem selbstgegrabenen Tunnel festbetoniert haben. Diese Meldung ruft Verwunderung, aber gleichzeitig auch Begeisterung hervor. Man hört Stimmen, die von einer List der Polizei sprechen. Um mich von der Wahrheit zu überzeugen, mache ich mich mit drei Schulkameraden per Anhalter auf den Weg Richtung Walheim. Tatsächlich stehen schon einige Einsatzfahrzeuge der Polizei am Straßenrand. Der Tunnel ist etwa fünf Meter lang und hat einen Durchmesser von ungefähr 80 Zentimetern. Ratlose Polizisten und wißbegierige Reporter stehen vor dem Eingang des Erdlochs. Mit Hilfe einer Taschenlampe lassen sich deutlich zwei Paar Schuhe erkennen, ein Rohr für Frischluft ragt aus der Überraschungstat der beiden Maulwürfe. Nachdem wir alles gesehen haben, trampen wir wieder zurück zum Kernkraftwerk. Ein Mitglied des Aktionsbündnisses nimmt uns mit und trägt uns auf, allen Blockierern mitzuteilen, daß die Neckarbrücke ab 13 Uhr für Fußgänger geschlossen wird. Diese Nachricht deutet auf die aufkommende Nervosität der Einsatzleitung hin. Der Tunnel hat wohl das Konzept ziemlich durcheinander gebracht. Als wir den Blockierern vor Tor 2, deren Zahl auf etwa 200 gestiegen ist, vom Tunnel berichten, erntet die Untertunnelungsaktion lauten Beifall.

Unterdessen befindet sich ein sogenannter Betreuer und eine Polizeipsychologin als Vermittler zwischen Demonstranten und Polizei vor Ort. Die beiden suchen das Gespräch, vor allem mit Schülern. Nach einigen Sätzen hat man den Eindruck, sie wollen einem nur ins Gewissen reden, damit einige Zuhörer den nächsten Zug nach Hause nehmen und sich das Abenteuer im Fernsehen anschauen statt hier weiter zu demonstrieren. Glücklicherweise machen die beiden ihren Job so schlecht, daß selbst der ängstlichste Blockierer merkt, was hier wirklich gespielt wird.

Plötzlich fahren etwa zehn Wannen, das sind größere Polizeibusse, an der blockierten Einfahrt vorbei. Die bis dahin friedlich wartende Menge fühlt sich provoziert, und manche beginnen mit „Haut ab, haut ab!"-Rufen. Im Gelände des Kraftwerkes sammeln sich zusehends mehr Polizisten, ein Zeichen, daß der Beginn des Transportes immer näher rückt. Es ist gerade mal halb drei, die Zahl der anwesenden Reportern und Fernsehteams wächst, der Tunnel unter der Bundesstraße ist noch lange nicht geräumt. Kein Grund zur Panik also!

Wer jetzt ein Gespräch mit dem Demonstrationsbetreuer der Polizei beginnt und den Tunnel erwähnt, muß sich wundern: „Die Schwertransporter fahren da trotzdem drüber!" Wie bitte? 130 Tonnen schwere Castoren über eine untergrabene Straße, bei der niemand genau weiß, wieviel Untergrund weggeschaufelt wurde? „Wir halten den Zeitplan ein!" meint er jetzt. Doch um 16 Uhr tut sich nichts, was auf den Beginn des Transportes hinweisen könnte. Die Ablösung der Wach-Hundertschaft ist das einzige Zeichen für die sich zuspitzende Lage: erstmals am heutigen Tag tragen die Beamten Schlagstöcke, noch lächeln sie freundlich wie ihre Vorgänger.

Hinsetzen bevor es ernst wird

Trotzdem hat sich was verändert. Langsam aber sicher rücken die Sitzenden näher zusammen, drumrumstehende Demonstranten setzen sich dazu. Im Innern des Kraftwerkgeländes sammeln sich unzählige Hundertschaften, teilweise mit Schlagstöcken, Schutzschilden und Helmen ausgerüstet.

Die Spannung steigt noch mehr, als ein Polizeiwagen mit Megaphon in sicherem Abstand vor der Sitzblockade hält. Es wird still. Da ertönt eine quäkende Stimme: „Achtung, Achtung. Hier spricht die Polizei. Das Landratsamt Heilbronn..." Der Rest geht im Geschrei und unter den Pfiffen der Demonstranten unter. Das war also die erste Aufforderung, die Fahrbahn zu räumen. Keiner verläßt seinen Platz. Die demonstrierende Menge wächst zusammen, verschwörende Worte werden gewechselt, jemand beginnt einen monotonen Gesang, in den alle einstimmen. Die Fernsehteams kämpfen um die besten Plätze, während niemand die zweite Aufforderung des Herrn im Polizeiwagen hört. Die Stimmung ist unbeschreiblich, alles ist so unvorhersehbar spannend. Auch die dritte Aufforderung geht im Getöse unter. Nach einer kurzen Pause hört man die Worte: „Die Polizei wird keine weiteren Anweisungen mehr aussprechen!" Es kann losgehen. Hinter der in Reihe stehenden Hundertschaft haben sich Polizisten in einer Zweierreihe aufgestellt, das kann ja nichts Gutes heißen. Mit Plexiglasschilden bewaffnete Beamte stellen sich seitlich der Sitzblockade entlang auf. Einkesseln, schießt es mir durch den Kopf. Doch dann kommt alles anders.

Je zwei Polizeimeister packen einen Sitzenden und führen oder tragen ihn weg. Da ich in der zweiten Reihe sitze, bin ich einer der Ersten, die abgeführt werden. Langsam gehe ich zwischen meinen beiden Abschleppern ins Ungewisse. Denn was jetzt kommt hätte niemand vermutet. Unsere Personalien werden aufgenommen, Taschen und Rucksack durchsucht, jeder von uns bekommt Handfesseln, besser gesagt dicke Kabelbinder um die Handgelenke.

Eine Busfahrt hinter Gittern

Mit Händen auf dem Rücken werden wir gruppenweise zu Gefängniswagen geführt und reingesetzt. In meinem Wagen, einem total vergitterten VW-Bus, sitzen bereits ein Freund von mir sowie zwei Studentinnen aus Würzburg. Ein Kripobeamter aus Heidenheim betreut uns. Er muß den Job des Aufsehers zum Glück nur einmal im Jahr machen, erzählt er uns. Immer noch gefesselt fahren wir los. Quer durchs Kernkraftwerk zum Personalausgang hinaus. Vor uns wie hinter uns Busse mit Gefangenen, die vor kurzem noch friedlich demonstrierten. Von der Neckarbrücke bis zum Abzweig nach Walheim stehen grüne Männer und Frauen Schulter an Schulter am Straßenrand. Man fühlt sich so wichtig und bewacht wie ein Schwerverbrecher. Lange dauert die Fahrt, erstaunlich weit weg vom Ort des Geschehens werden wir Demonstranten gebracht. Von unserem betreuenden Kripobeamten erfahren wir unser Ziel: ein Sammellager in einer Turnhalle in Talheim. Auf dem Parkplatz dieser Sporthalle stehen schon einige Polizeifahrzeuge. Jetzt zeigt sich, was für Glück wir mit unserem Betreuer haben, denn wir sind die einzigen Gefangenen, die ihre Rucksäcke öffnen und vespern dürfen. Sogar das Telefonieren mit dem Handy meines Freundes wird uns gestattet, während sich die Insassen eines anderen Busses durch gemeinsames Hin- und Herschaukeln bemerkbar machen, damit wenigstens die Fahrzeugtür für Frischluft geöffnet wird. Obwohl wir der vierte Bus sind, müssen wir fast drei Stunden im ungeheizten Auto warten. Wer in dieser Zeit auf die Toilette muß, wird von zwei Polizisten vom Wagen abgeholt und bis in die Kabinen begleitet. Jeder rechnet damit, die Nacht in Gefangenschaft zu verbringen, da wir warten müssen, bis die Castoren auf dem Schienenweg Baden-Württemberg verlassen haben.

Endlich sind wir an der Reihe. Erneut werden wir durchsucht, alle Gegenstände müssen wir abgeben, auch das Geld wird gezählt - bei mir waren es genau 72 Pfennige - und eingesackt. Nach den bürokratischen Formalitäten wird unsere Sünderkartei im Computer begutachtet. Leider wird bei keinem unserer Gruppe ein einschlägiger Gesetzesbruch gefunden. Mein ständiger Bewacher freut sich auf den lang ersehnten Feierabend - es ist mittlerweile 21:12 Uhr - und führt mich in die mir riesig erscheinende Turnhalle. Ein wirklich seltsames Gefühl, ohne Fesseln oder Bewacher zu laufen.

Die Stimmung unter den jugendlichen Castorgegnern ist recht gut, wenn man bedenkt, daß manche schon seit knapp 40 Stunden ohne Schlaf ausharren. Es gibt trockenes Brot und Landjäger, die selbe Nahrung für Polizisten und Gefangene. Wahrscheinlich die einzige Gemeinsamkeit an diesem Tag. (PJE)

1 Kommentar:

dana hat gesagt…

achja, langlang ists her.